Verheerende Schäden in Europas Weinlandschaft
Wohl kein Schädling hat die Weinlandschaft Europas im 19. Jahrhundert so stark geschädigt und nachhaltig beeinträchtigt wie die Reblaus, auch als Phylloxera bekannt. Der wirtschaftliche Schaden war immens, der Befall veränderte den Anbau, die Produktion und die Märkte. Die Plage hat die Weinlandschaft für immer verändert, die Auswirkungen sind bis heute spürbar.
Insgesamt fielen der Reblaus ab Mitte des 19. Jahrhunderts ungefähr 2,5 Millionen Hektar Reben zum Opfer. Allein in Frankreich war fast die Hälfte der Anbaufläche betroffen, besonders stark in Mitleidenschaft gezogen wurden Bordeaux und Burgund.
Wahrscheinlich gelangte die Reblaus Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Import von amerikanischen Reben nach Europa. Den ersten dokumentierten Befall gab es im Jahr 1863 im Languedoc. Allerdings dauerte es noch einige Jahre, bis man die Schäden an den Reben eindeutig der Reblaus zuordnen konnte.
Die Reblausplage wirkte sich auf eine Vielzahl von Weinbaubetrieben in ganz Europa existenzgefährdend aus. Und das nur kurze Zeit nach dem Befall mit Echtem Mehltau. Die ersten Maßnahmen zur Bekämpfung der Plage hatten sowohl ihre skurrilen als auch ihre umweltschädlichen Seiten. Doch zuerst zur Entstehung des Problems …
Einwanderer aus Amerika
Sowohl der Pilz Echter Mehltau als auch die Reblaus sind Einwanderer aus Amerika. Seit der Erfindung der Dampfmaschine und der Entwicklung von Dampfschiffen war die Atlantiküberquerung wesentlich schneller möglich als mit Segelschiffen. Die ungefähr zehn Tage Dauer der Überfahrt nach Europa überlebten die im Holz versteckten Läuse leicht.
In Frankreich hatte man mit der zunehmenden Nachfrage nach den Weinen um Bordeaux, im Burgund, im Languedoc und in der Champagne den Weinanbau deutlich intensiviert. Wo vorher Gemüse, Oliven oder Getreide wuchsen, wurde ausschließlich Wein angebaut. Mitte des 19. Jahrhunderts betrug die Rebfläche in Frankreich ungefähr 1,4 Millionen Hektar. Die großflächigen Monokulturen machten es der Reblaus leicht, sich umfangreich zu verbreiten.
Besonders schwer betroffen: Bordeaux und Burgund
In Frankreich allein fiel fast die Hälfte der Rebfläche der Reblaus zum Opfer. Besonders schwer erwischte es die Vorzeigeregionen Bordeaux und Burgund. Dort vernichtete die Reblaus über 80 Prozent der Reben. Die Neupflanzungen brachten erst nach Jahren wieder verwertbaren Ertrag.
Der Produktionsausfall verursachte einen enormen Preisanstieg. Um den plötzlichen Mangel an Wein zu kompensieren, verkaufte man einerseits auch minderwertigere Weine oder verschnitt die regionalen Sorten mit zugekauften Trauben. Das bedeutete eine Qualitätsminderung, die sich wiederum aufs Ansehen der Region niederschlug. Manche der Winzer konnten ihre Betriebe mit Krediten über Wasser halten. Eine Vielzahl vor allem der kleineren Winzer allerdings verloren dabei ihren Lebensunterhalt.
Von Frankreichs Dilemma konnten anfangs noch weniger bekannte Weinregionen wie das Rioja profitieren. Die Region, durchs Gebirge lange geschützt, exportierte Anfang der 1870er-Jahre weltweit Weine, die dem Stil der berühmten Bordeaux- und Burgunderweine ähnelten. Auch Deutschland und Italien verzeichneten in den ersten Jahren einen Exportaufschwung, bevor die Reblaus dort ab Mitte der 1870er-Jahre ebenfalls einfiel.
Innerhalb von 40 Jahren hatte sich die Reblaus von Frankreich aus durch die europäische Weinlandschaft gefressen. Kein Land blieb gänzlich verschont. Über Importe von infizierten Rebstöcken gelangte die Reblaus sogar bis nach Australien, Neuseeland, Algerien und Südafrika.
Der Kampf gegen die Laus: erstaunliche Methoden
Lange war die Ursache des Rebensterbens ein Rätsel. 1868 machte eine französische Kommission um den Botaniker Jules-Émile Planchon den winzigen, gelben Schädling als Grund für das Verschwinden gesamter Wurzelwerke aus. Sein amerikanischer Ursprung ließ sich erst später nachweisen.
Bei der Bekämpfung der Reblaus blieb nichts unversucht. Die Dringlichkeit aufgrund der wirtschaftlichen Relevanz zusammen mit fehlenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden sowie eine gute Portion Aberglaube sorgten für erstaunliche Ansätze: Tote Kröten wurden unter Rebstöcken vergraben, Trompeten geblasen zur Vertreibung der Schädlinge, Katzen im Weinberg ausgesetzt oder der Boden mit Stromschlägen traktiert.
Das weitflächige Einspritzen von giftigem Schwefelkohlenstoff in den Boden war weniger amüsant. Die Maßnahme tötete zwar die Reblaus, nicht jedoch ihre Larven. Außerdem wurden so große Flächen über Jahre hinweg verseucht. Auch eine Überflutung der Rebflächen brachte nur kurz Erfolg und war nicht überall möglich. Schließlich wurden ganze Gebiete als Quarantänemaßnahme entwurzelt, um die Verbreitung einzudämmen.
Eine 1870 gegründete Kommission zur Bekämpfung der Reblausplage in Frankreich wurde vom Chemiker Jean-Baptiste Dumas geleitet. 1885 übernahm der berühmte Louis Pasteur seine Nachfolge. Doch er scheiterte ebenso wie alle anderen Forscher, die der Plage mit chemischen Mitteln auf den Pelz rücken wollten. Die Plage selbst konnte man damit höchstens kurzfristig aufhalten.
Spezialfall Europa: Die Wurzelreblaus
Die Reblaus ist ein Insekt der Unterordnung Blattläuse und befällt ausschließlich Weinreben. Je nach Reblaus-Art und Resistenz der Reben befällt sie entweder die Wurzeln, die Blätter oder beides. Dabei gibt sie ihren Speichel über kleine Einstichlöcher in die Saftbahnen der Pflanze ab. Die Rebe bildet zur Abwehr Wucherungen oder Knoten, deren weiches Gewebe der Laus als Nahrung und Nest für ihre Eier dient.
In Europa waren die Blätter der Reben resistent, weswegen sich hier die Wurzelreblaus verbreitete. Sie ist für die Weinrebe am schädlichsten, weil sie die Grundversorgung mit Wasser und Nährstoffen direkt angreift. Durch die Fraßlöcher finden zudem andere Schädlinge und Bakterien Zugang zur Wurzel und verursachen Wurzelfäule. Innerhalb von maximal drei Jahren stirbt die Weinrebe vollständig ab und die Reblaus zieht zur nächsten Pflanze.
Erste Erfolge dank Biotechnik
In den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts – also zeitgleich mit den chemischen Versuchen – arbeitete Jules Émile Planton mit seinen Schülern in Montpellier an einer vielversprechenden Lösung zur Bekämpfung der Plage. Er fand heraus, dass die Wurzelreblaus bestimmten amerikanischen Reben nichts anhaben konnte. Ihre Wurzeln reagierten nicht auf den Speichel der Rebläuse und bildeten keine Knoten. Somit war ihr die Nahrungsgrundlage entzogen. An den Einstichlöchern bildeten die resistenten Wurzeln eine Korkschicht, die wirksam vor Eindringlingen und Fäule schützte.
Die Veredelung ist eine bereits seit der Antike verwendete Methode. Durch das Aufpropfen der europäischen Weinrebe Vitis vinifera auf amerikanische Unterlagsreben – insbesondere vitis riparia, vitis rupestris, vitis berlandieri – erzielte man endlich erste Erfolge. Nicht alle amerikanischen Unterlagsreben waren jedoch für die unterschiedlichen europäischen Böden geeignet. In jahrelanger Arbeit mussten die passenden Unterlagen für die jeweiligen regionalen Bedürfnisse herausgefunden werden.
Versuche mit Hybridzüchtung als Alternative brachten keine qualitativ zufriedenstellenden Ergebnisse und wurden wieder verworfen. Letzten Endes brachte nur die Veredelung nachhaltigen Erfolg. Sie ist bis heute die wirksamste Bekämpfung der Reblaus.
Und noch mehr Plagen
Der Import von Millionen von Unterlagsreben zur Eindämmung der Reblaus zog Ende des 19. Jahrhunderts eine weitere Plage nach sich: den Falschen Mehltau. Ein paar Jahre darauf folgte dann noch die Schwarzfäule. Insgesamt wurde der europäische Weinbau im 19. Jahrhundert damit von vier amerikanischen Plagen heimgesucht. Den größten und am längsten anhaltenden Schaden allerdings verursachte die Reblaus.
Wurzelechte Überbleibsel
Einige europäische Weingebiete oder Lagen sind durch günstige Verhältnisse von der Reblaus verschont geblieben. Oft haben dabei Gebiete einen Vorteil, in denen Weinbau erst spät im größeren Stil praktiziert wurde oder die Wein nach wie vor in eher kleinen Einzelparzellen kultivieren.
Die griechische Insel Santorini mit ihren vulkanischen Böden und dem trockenen Klima beispielsweise überstand die Plage unbeschadet und produziert auch heute noch Assyrtiko von wurzelechten Reben. In einigen Weinbergen im Rioja waren die Tempranillo- und Garnacha-Reben durch die sandigen Böden geschützt, die der Verbreitung der Reblaus abträglich waren.
Im französischen Jura findet man noch alte Weinberge, in denen die Rebsorte Savagnin ohne amerikanische Unterlage auskommt. Auch an der Loire gibt es einige wenige Parzellen, in denen wurzelechte Reben stehen. Und auch in Deutschland existieren vereinzelt Parzellen wurzelechter Rebstöcke, beispielsweise an der Ahr, im Rheingau, an der Mosel, in Franken und Baden.
Diese reinen Vitis vinifera-Reben sind Raritäten mit sehr reduziertem Ertrag. Daraus sollen authentischere, intensiver schmeckende Weine gekeltert werden können. Allerdings könnte die hohe Qualität auch von der traditionelleren Bewirtschaftung der meist kleinen Betriebe kommen.
Zum Testen: Bei der Weinhandlung Kreis gibt es den Franc de Pied von wurzelechten Reben von der biodynamisch arbeitenden Domaine des Roches Neuves in Saumur an der Loire.
Von Jessica Dueñas